Von Benedikt Eiden
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In Las Vegas ist es ungewöhnlich schwül an jenem ersten Septemberwochenende des Jahres 1996. Selbst für diese Stadt, beherrscht vom staubtrockenen Klima der Mojave-Wüste, scheint die Luft in den späten Stunden des Samstagabend seltsam schwer und stickig. Soeben hat in der Arena des riesigen MGM Grand-Hotelkomplex Mike Tyson in einem der wahrscheinlich kürzesten Kämpfe der Boxgeschichte seinen Gegner mit einem K. O. nach bereits neunzig Sekunden in der ersten Runde niedergestreckt. Auf dem Strip, einer knapp sechs Kilometer langen Vergnügungsmeile, die direkt am MGM-Hotel vorbeiführt, ist es nach dem vorzeitigen Läuten der Ringglocke nun wieder brechend voll: Ein Boxkampf Tysons besitzt Mitte der 1990er-Jahre magnetische Anziehungskraft von heute kaum noch ausdenkbarem Ausmaße, in etwa vielleicht vergleichbar mit der des NFL Superbowl. Aus dem gesamten Umland, ja aus der ganzen Welt strömen die Menschen aus diesem Anlass in die Wüstenstadt, manche auch nur, um ein Mal jene verheißungsvolle Atmosphäre aus feinstofflichem Kapital und Luxus zu erleben, welche die Straßen bei solchen Megaevents besonders zu durchdringen scheint. Darunter wabert auch ein nicht unerheblicher Anteil an Gangkultur aus der nahe gelegenen Metropole Los Angeles.
Es ist nun wahrscheinlich kurz vor Mitternacht, als ganz in der Nähe des Strips zwei Polizeibeamte, gerade in einem Parkhaus tätig, mehrere Schüsse hören, die von der Straßenkreuzung direkt gegenüber zu drängen scheinen. Augenblicklich springen sie auf ihre Räder – eine deutlich mobilere Alternative im meist zäh fließenden Straßenverkehr von Las Vegas –, als unten ein schwarzer 7er BMW inmitten der Kreuzung mit einem U-Turn harsch in entgegengesetzte Richtung einschlägt. »Shots fired! Vehicles fleeing the scene«, werden sie funken. Aufgrund der um diese Uhrzeit stark überlaufenen Gegend sind die beiden zunächst kaum in der Lage, dem schwarzen BMW und drei weiteren Autos zu folgen, geschweige denn auf Sichtnähe an die erratisch rasende Kolonne aufzuschließen. Laut Augenzeugenberichten biegt der BMW nun nochmals links ab, südlich, wieder in Richtung des MGM, schlägt nach wahrscheinlich zwei Kilometern bei einem missglückten Ausweichmanöver auf einer Bordsteinkante auf und kommt schließlich mit zwei geplatzten Reifen auf einer Kreuzung inmitten des Strips zum Stehen. Just in diesem Moment fährt ein dritter, über Funk informierter Fahrradcop von Süden kommend auf den langsam ausrollenden BMW zu – Chris Carroll wird als erster Polizeibeamter vor Ort sein. Wer Täter, wer Opfer ist, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Mit gezogener Waffe versucht er zunächst die Situation unter Kontrolle zu bringen, fordert die Fahrzeugkolonne auf, mit erhobenen Händen aus ihren Wagen zu steigen. Dann nähert er sich dem schwarzen BMW, bemerkt im Halbdunkel der Karosse die Umrisse einer Person. Wie er kurz darauf erfahren wird, ist das mit dreizehn Schüssen völlig durchsiebte Auto auf Suge Knight zugelassen, Boss des millionenschweren Hip-Hop-Labels Death Row Records, welcher mit klaffender Kopfwunde nun neben ihm steht und sichtlich entgeistert auf ihn einredet. Die gegen die Beifahrertür des BMW lehnende Person, die laut Ersthelfer Carroll eine unheimliche lange Zeit braucht bis sie zu ihm herüberblickt, ist, wie er später erfahren wird, Rap- und Filmstar Tupac Shakur. Carroll wird außerdem wissen, dass Tupac, auch wegen des ungewöhnlich schwülen Wetters, auf das Tragen seiner schusssicheren Weste an diesem Abend verzichtete. Viele Jahre später wird Carroll in einem Interview zum ersten Mal zu Protokoll geben, Tupacs letzte an ihn gerichteten Worte seien »Fuck you!« gewesen.
Heute, fast drei Jahrzehnte danach, scheint jene Septembernacht in Las Vegas so auserzählt wie mysteriös, so trivial wie nach wie vor irgendwie unheimlich. Die Geschichte von Tupacs turbulentem, äußerst kurzem Leben ist dementsprechend tief im kollektiven Gedächtnis mehrerer Generationen an Rap- und Musikfans verankert, ist popkulturelles Grundkapital, ja moderne amerikanische Folklore geworden.
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Über keinen anderen Rapper ist wahrscheinlich mehr berichtet und geschrieben worden als über Tupac Amaru Shakur. Es ist beinahe unglaublich, welches Ausmaß die mediale Berichterstattung im Laufe der letzten fünfundzwanzig Jahre angenommen hat. Natürlich sind Karrieren von Rapkünstlern wie die von Kanye West, Kendrick Lamar oder einer Nicki Minaj in der heutigen Medienlandschaft präsenter, doch scheint der allgemeine Rekurs auf Tupac weiterhin ungebrochen. Seit seinem Tod erschienen zahlreiche Bücher (darunter Bestseller wie The Killing Of Tupac Shakur, Holler If Ya Hear Me oder Changes: An Oral History Of Tupac Shakur), Dokumentationen, TV-Specials sowie Online-Archive und zuletzt Podcasts (das misslungene Biopic All Eyez On Me darf hier gerne ausgeklammert werden). Hinzu kommen Youtube-Kanäle wie das bekannte Hip-Hop-Boulevard-Magazin VladTV, aber auch The Art Of Dialogue oder Bomb1st, die sich gewissermaßen zu einer Art Sachverwalter der Person Shakur entwickelt haben. In einer ans pathologische grenzenden Detailversessenheit und Ausführlichkeit wird hier jede Station, jede Bagatelle, jede Ecke seines Privat- und Künstlerlebens chronologisch ausgeleuchtet, mit der Absicht, den bis heute offiziell ungelösten Mordfall doch noch eigenhändig und aufs Indezenteste lösen zu können. Aberhunderte von Interviews mit Zeitzeugen – makabererweise, vielleicht sogar mit einem der Täter – sind mittlerweile auf erwähnten Kanälen zu finden. Eindeutiger wird Tupacs Lebensgeschichte sowie ihr jähes Ende in Las Vegas dadurch jedoch nicht, sondern wirkt es immer prismatischer, je mehr Stimmen zu Wort kommen. Kurzum: Es ist genau jener kostbar-verrätselte Stoff, aus dem Mythen gemeinhin gesponnen werden. Sein universeller Status als popkulturelle Ikone scheint dementsprechend wie einzementiert: Nicht nur gilt er als der glorreiche Inbegriff eines Gangster-Rappers, sondern wird in einem Ausmaße ähnlich Che Guevaras von Fans und mitunter auch Musikmedien zum machtkritischen Intellektuellen, ja Revolutionär stilisiert. Ein Verdacht verhärtet sich dadurch: dass seine eigentliche Musik, wie auf The Quietus in einem Artikel anlässlich des 25-jährigen Jubiläums seines Albums Me Against The World bereits vermutetet wurde, »für gewöhnlich der weniger interessante Teil der 2Pac-Legende ist.« Ist das tatsächlich so? Sicherlich ist dieser Eindruck auch einer gewissen Medienlogik geschuldet, die sich mehr um Personenkult und Kontroverses schert und nach einer immer begrenzteren Aufmerksamkeitsspanne oder Klickzahlen ausgerichtet ist, dennoch: Ist das nicht die deutlich spannendere Herangehensweise, will man seinem überlebensgroß erscheinenden Mythos irgendwie gerecht werden? Eine, die sich mehr an Zurückhaltung und Nüchternheit orientiert? Unter dieser Annahme, abseits von großen Behauptungen, will ich jedenfalls selbst noch mal versuchen, meine eigene, weit zurückreichende Faszination mit jener – keinesfalls widerspruchsfreien – Persönlichkeit nachzuzeichnen. Ein nüchterner, womöglich kritischer Blick auf ein sentimental aufgeladenes Interesse – ist das überhaupt möglich? Immerhin begleitete mich seine Musik einen Großteil meiner frühen Jugend.
Vor ein paar Sommern entdeckte ich sie wieder. Rapmusik im Allgemeinen und insbesondere auch die von Tupac. Eine Ewigkeit hatte ich sie nicht mehr beachtet, zwischenzeitig sogar völlig vergessen. Aufs Neue hörte ich plötzlich wieder frühere Lieblingssongs, schaute mir alte Interviews oder Filmausschnitte an, wühlte mich erstmalig auch durch eine Menge unveröffentlichte Musik aus seiner Spätphase. Aus Tupacs Texten, die ich damals als Dreizehnjähriger aufgrund noch dünner Englischkenntnisse nur bruchstückhaft verstand, erschloss sich mir nun ein neues, vielschichtigeres Bild. Ich erkannte zum ersten Mal so etwas wie eine paranoide Getriebenheit, aber auch einen Fatalismus, der auf seinem Megaseller All Eyez On Me, meinem damaligen go-to-Album, das ich rauf und runter hörte, kaum zu finden war. Jedenfalls konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Des Weiteren, so fand ich, hatte er sich zum Schluss hin als Rapper spürbar weiterentwickelt, doch war jenes Material, entstanden in den letzten Wochen und Monaten vor seinem Tod, fast ausnahmslos durchzogen von einem unguten Gemisch aus ausufernder Wut und Größenwahn – auch das war mir neu in seiner Wucht und Ambivalenz. Spuren der großen, völlig unreflektierten Begeisterung aus der Jugend überlagerten sich nun mit neuen Eindrücken und Informationen, mit einem neuen Gehör. Es war ein irgendwie verdrehtes Gefühl, dem ich gerne auf die Schliche kommen wollte. Ich begriff entfernt, dass ich hierzu nochmal einen Schritt zurückgehen müsste.
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Zurück zur eigenen Geschichte. Zu einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt in der südwestdeutschen Peripherie. Zu den Orten, an denen man die Musik zum ersten Mal hörte, sich von ihr berauschen ließ, sich dabei etwas in sie einschrieb. Eine Spur, die sich womöglich viele Jahre später wieder als etwas rätselhaft Vertrautes äußern würde. Songs sozusagen als Gefäße, als Zeitkapseln, in denen das eigene Empfinden, die eigene Teenagerzeit eingedampft ist.
Denn immer wieder fahre ich nach E., besuche meine Eltern, laufe durch meine Kindheit, meine Jugend. Sehe über die Betonflächen des Skateparks hinweg die hohe blaue Luft, den enormen Himmel, dessen Anblick mich hier auf oben auf den Feldern immer wieder erstaunt hatte. Sehe die ansteigenden Äcker mit schwarzen und weißen Hügeln aus Plastikplanen, die aus der Ferne wie frisch gepinselt glänzen. Und manchmal frage ich mich, wie es wohl wäre, würde ich ohne Wissen und bisherige Erfahrungen durch diese Landschaft laufen. Eine, die von Augenblicken, die ausschließlich mit dem Gegenwärtigen zu tun hätten, bestimmt wäre? Ich sehe nun Schatten, die zu Schatten werden. Sehe mich selbst, wie ich durch die heiße, flimmernde Luft laufe, mit einem Basketball unter meinem Arm. Sehe die späten, gelbbraunen Nachmittage mit den geschlossenen Fenstern und Türen eines Samstags im August. Höre den metallisch flirrenden Stromkasten, das Wassergeplätscher von Teichbecken aus unbekannten Gärten. Spüre ein dumpfes Heimatgefühl.
Das Haus, das Land, die gelbbraunen Nachmittage. Dort, wo sich im Kleinen, Unbedeutenden die Dinge nachträglich zu den groben Konturen eines Aufwachsens zusammenraffen lassen. Das alte Kinderzimmer und der Keller, sozusagen geschichtsträchtiges Fundament des Hauses, erzählen dabei so manches, wenn auch bruchstückhaft. Ein Paar And1-Basketballschuhe, eine tief vergrabene VHS-Kassette, darauf steht Up In Smoke Tour; Augenblicke der frühen Jugend in alten Umzugskisten. Vorne, auf dem Cover der Videokassette, prangen über einem riesigen Cannabisblatt die Gesichter des illustren Hip-Hop-Vierergespanns aus Dr. Dre, Snoop Dogg, Eminem und Ice Cube. Ich muss jetzt an einen alten Schulfreund denken, mit dem ich die Begeisterung für Rapmusik und Basketball teilte. Wir trugen die gleichen Klamotten, er trug seine Karl Kani-Sweater jedoch wesentlich cooler, selbstverständlicher als ich. Auch rauchte er bereits, was ihn in meiner Erinnerung seltsamerweise mit den meisten anderen Jugendlichen verband. Gleich war auch seine Eigenart, beim Lachen jedes Mal eingeleitet durch ein grausiges Gewürge auf den Boden zu rotzen. Mit ihm traf ich mich oft nach dem Unterricht, zum PlayStation-Zocken oder einfach nur Körbewerfen. Dabei hörten wir Rapmusik aus den Südstaaten wie Master P oder C-Murder, meistens griffen wir jedoch auf den warmen, entspannteren Sound der Westküste zurück. Ab und an versuchten wir auch manche jener Songs nachzurappen, nahmen uns auf, wie wir die Anfangszeilen von »Nuthin’ But A G Thang« hastig imitierten, »One, two, three and to the four/ Snoop Doggy Dogg and Dr. Dre is at the door…«. Alles Hinweise auf eine vermeintlich typische musikalische Sozialisation also, innerhalb derer, wie für so viele meiner Generation, die in den 1990-Jahren aufwuchsen, US-amerikanische Pop- beziehungsweise Rapkultur enormen Einfluss hatte.
Es muss Ende 1998 gewesen als ich Tupacs Musik zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Der Song hieß »Changes« und lief zu diesem Zeitpunkt auf MTV in Dauerschleife. Sein käsig-sentimentales Instrumental – ein Sample des bereits sehr geschmeidigen Piano Rock-Stücks »The Way It Is« von Ex-Grateful Dead-Mitglied Bruce Hornsby – war hochgradig eingängig, wurde getragen von einer charismatischen Stimme. Und die klang sehr entschieden: »We gotta start makin’ changes/ Learn to see me as a brother instead of two distant strangers.« Obgleich ich die politische Dimension darin noch nicht einordnen konnte, leuchtete es mir irgendwie doch ein, im Aufbegehrenden der Zeilen, in der melancholischen Resignation der Hook. »That’s just the way it is/ Things’ll never be the same.« Tupac – der große Unverstandene also. Das verfing sofort. Mitsamt seines eindringlichen Musikvideos, welches Material aus einem halben Jahrzehnt an medialer Tupac-Berichterstattung zu einer großen Collage zusammenführte, schmetterte »Changes« somit ohne Umwege in meine verunsichert vor sich hinpubertierende Gedankenwelt. Ich sehe jetzt das Cover der Maxi-CD vor mir. Sehe jemanden, der in der Schule nachlässt, sich überfordert fühlt, den Unterricht schwänzt, sich zunehmend einsam fühlt. Der irgendwie abtaucht, um in seinem späteren Leben die Dinge vielleicht umso besser auf die Reihe zu kriegen. Der sich bald darauf das soeben erschienene Greatest Hits-Album kauft und damit die Repeat-Funktion seines CD-Players testet.
Tupac war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahren tot. So hieß es zumindest in der Öffentlichkeit. Zu jener Zeit fing gerade auch das Internet an, sich in den deutschen Haushalten einzunisten; mit 56k-Modem und akuter 14-Jährigkeit ausgestattet, geriet ich nun nach und nach in diverse Internetforen, die schon damals zwielichtige, aber für mich natürlich hochplausible Theorien aufstellten: Tupac sei am noch Leben, hätte seinen Tod nur vorgetäuscht, wäre direkt nach dem vermeintlich tödlichen Vorfall in Las Vegas noch an der Kreuzung von einem Hubschrauber davongetragen worden. Wahrscheinlich nach Jamaika, Kuba oder einer viel entlegeneren Insel, von der es freilich so gar keine Informationen gab. Chuck D von Public Enemy ließ damals in einem Interview sogar verlauten, all jene Hinweise auf Tupacs tatsächlich nur vorgetäuschten Tod wären zwischen den Zeilen sowie im Artwork seines letzten Studioalbums The Don Killuminati: The 7 Day Theory bereits versteckt. Man müsse sie nur als solche lesen. Ich erinnere mich außerdem an eine Theorie, die damals besonders die Runde machte: Man könne in der ersten Sekunde des Eröffnungstracks von erwähntem letzten Album eine Stimme sagen hören: »Suge shot me«. Wir erinnern uns: der Suge Knight, der in Las Vegas im selben Auto wie Tupac saß. All diese heute hanebüchenen Verschwörungstheorien müssen mich damals jedoch nachhaltig beeindruckt und in den Bann gezogen haben. Es hieß außerdem, für 2003 habe Tupac seine »Rückkehr« in die Öffentlichkeit geplant. Mit einem Taschenmesser ritzte ich die umgehend magisch umwölkte Jahreszahl in meinen Holztisch, auf dem ich sonst meine Hausaufgaben hinauszögerte oder Zeichnungen von Wrestling-Stars und dergleichen anfertigte. 2003 – der Rap-Gott wäre also bald fuckin’ zurück.
Die Zeit verstrich, die Jahre zogen ins Land. Mein Interesse an Rapmusik war inzwischen stark abgekühlt und wurde schleichend, aber sorgfältig vom nächsten identitätsstiftenden Stromschlag namens Heavy Metal abgelöst. Zug um Zug verkaufte ich den Großteil meiner CD-Sammlung an Hip-Hop-Alben und Maxi-Singles – statt »Changes« oder Illmatic hieß es von nun an Ride The Lightning oder »5 Minutes Alone«. Ich ließ mir die Haare wachsen, bekam eine deftige Matte. Auch meine Baggyjeans schrumpften, und anstatt des Kani-Schriftzuges prangte auf meinen Shirts nun stolz der Pushead-Schädel von Metallica. Ob Tupac aus seinem exotischen Exil zurückkehren und die Rapwelt heimsuchen würde, juckte mich derweil kaum noch.
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Sechzehn Jahre später, 2019, in meiner Berliner Wohnung. Es ist Anfang Juni. Zu meiner Rechten sehe ich die kalkweißen, noch nässedurchsetzen Mauern des Hinterhofs, durch das Fenster zur Straße strahlt ein schneidendes, weißes Licht ins Zimmer. Es ist wattig warm, aus den Boxen läuft Tupac. Und sofort bin ich wieder drin. In irgendeinem berauschten Sommergefühl, das wohl aus meinem eigenen Leben stammt. Vermutlich hat es was mit Älterwerden zu tun, mit dem unwiederbringlichen Voranschreiten der Zeit, dass ich nun, mehr oder minder bewusst, auf etwas Vertrautes aus meiner Jugend zurückgreife. (Vielleicht liegt es auch an der Tatsache, dass, seit ich in Berlin lebe, viele jener Songs regelmäßig und in schönster Lautstärke aus bulligen Karossen brettern, weshalb die Erinnerung an seine Musik letztendlich nie ganz in mir verblasste.) Doch wie ist das mit dem Vertrauten? Gab es da noch etwas in seinen Songs, das über jenes irgendwie trügerische Gefühl von emotionaler Wärme und Geborgenheit hinausreichte? Eine Qualität, jenseits davon? Lag es denn in erster Linie überhaupt an der Musik? War sie vielleicht tatsächlich der weniger interessante Teil…
Seine ersten zwei Werke, 2Pacalypse Now und Strictly For My N.I.G.G.A.Z., beide noch stark geprägt von einem aktivistischen Impetus und einer harten, allerdings arg angestaubten Public Enemy-Soundästhetik, klingen bis auf einige Tracks wie »Violent«, »Soulja’s Story« oder »Keep Ya Head Up«, so wie ich sie in Erinnerung hatte – hölzern und eher reizlos. Sein drittes Soloalbum, Me Against The World, kann mich dann wiederum begeistern. Das Umtriebige scheint hierauf über weite Strecken einer rohen Introspektion, einem beißendem Fatalismus gewichen zu sein. Und mag das Album den ein oder anderen Durchhänger haben und aufgrund der windschiefen Seelenlage seines Urhebers nicht immer ein Vergnügen sein: In seiner Gesamtheit bleibt es ein großes Zeitdokument sowie Psychogramm eines offenbar innerlich zerrissenen 23-Jährigen, der – berauscht und gleichzeitig desillusioniert vom öffentlichen Interesse an seiner Person – versucht, nicht gänzlich seinen Verstand zu verlieren. Zudem wird hierauf nochmal spürbar, worin die Qualität Tupacs auch heute noch für mich liegt: Es ist seine irgendwie unerklärliche Fähigkeit, den Worten einen Nachdruck, eine emotionale Glaubwürdigkeit zu verleihen – es sind Texte, die offenbar um jeden Preis erzählt werden müssen, so simpel sie manchmal auch anmuten. »Cause when I was low you was there for me / And never left me alone, because you cared for me«, rappt er auf »Dear Mama«, und dehnt dabei, fast mehr in Form eines Bluesängers, das »low« so schön wie wahrscheinlich kein anderer Rapper vor oder nach ihm. Es sind darüber hinaus Songs wie »So Many Tears« oder »Lord Knows«, die in fast schon metaphysischer Klarheit eine Todesnähe (man möchte fast behaupten suizidale Sehnsucht) beschreiben, die sich spätestens ab hier wie ein roter Faden durch seine Texte ziehen wird. »They should’ve shot me when I was born/ Now I’m trapped in the motherfuckin’ storm«, heißt es in »How Long Will They Mourn Me« aus demselben Jahr.
Ich halte inne. Woher kam überhaupt die Gewissheit, der Tod könne jederzeit anklopfen? Weshalb, so frage ich mich nun, hört man ihn in Interviews mit seltsamer Überzeugung Sätze sagen wie, »I always felt like I’ll be shot«, oder, »In this country a black man has only like 5 years where we can exhibit maximum strength. And that’s right now […] because once you turn 30 they take the heart and soul out of a black man in this country and you don’t want to fight anymore?« Schwer vorstellbar, dass hier eine Kunstfigur spricht. Es ist jedenfalls eine absolute Position, die er an dieser Stelle sowie in vielen anderen Interviews einnimmt. Eine, die manchmal haltlos wirkt, die gleichermaßen empowerndes wie destruktives Potenzial in sich tragen kann (Tupac bezeichnet es als eine logische innere Entwicklung, als eine Selbstfindungsphase, die er Thug Life nennt), die offenbar nichts zu verlieren hat und die ganz bestimmt an Herkunft gekoppelt war. Als hätte von Beginn seiner Karriere an ein ungeheures biografisches Gewicht auf ihm gelastet.
Sein letztes Album The Don Killuminati: The 7 Day Theory klingt dann stellenweise schon mehr wie ein Abschied und letzter Wille. »So if I die do the same for me/ Shed no tears«, heißt es in »Hold Ya Head«. Tupac schien bewusst, wie selbstzerstörerisch jenes Thug Life sein kann. »Don’t rush me to the gates of Heaven/ Let me picture for a while, how I lived for my days as a child«. In seinen besten Momenten lebt The 7 Day Theory von einer religiös aufgeladenen Bildsprache und dem fast schon prophetischen Gehalt seiner Texte. »I leave this here and hope God see my heart is pure/ Is Heaven just another door?« Es ist – vor dem Hintergrund seiner baldigen Ermordung – eine irgendwie schwindelerregende Ahnung von der dieses letzte Album durchdrungen ist.
War es vielleicht vielmehr seine kompromisslose, von einem offenbar absoluten Freiheitsverständnis bestimmte Haltung, welche er in seiner Musik (und augenscheinlich der Welt gegenüber) einzunehmen schien, die mich nach wie vor in Aufruhr versetzte? Die mich gleichermaßen irritierte wie magnetisch anzog? In jedem Fall war da etwas, was nun ein konkreteres Bild entstehen ließ. Was mir beim Wiederhören zudem auffiel: Seine Kunst wurde perverserweise umso spannender, desto destruktiver und megalomanischer (kompromissloser) sie in der Schlussphase auf mich erschien. War das vielleicht die eigenständige Qualität jenseits eines nostalgisch nachklingenden Gefühls nach der ich insgeheim auf der Suche war? Womöglich. Seine mit fast unerträglichem Hedonismus, falscher Angeberei und Misogynie aufgeladenen Texte in »Bomb First«, »All Out«, »Friendz« oder »Watch Ya Mouth«, standen dabei jedoch in harschem Kontrast, ja überrollten kleine Juwele wie »White Man’z World« oder »Still I Rise«, aus denen man eigentlich so viel mehr über die Fragilität eines Individuums erfuhr, über die Last von Herkunft und Race. Und darüber, dass laut und heftig letztendlich nicht immer der bessere Weg war – selbst in jenem hypermaskulinen Rap-Ökosystem der Neunzigerjahre. 1996 muss Tupac jedenfalls auf einer Mission gewesen sein.
Das ist nämlich auch ein Strang, der sich durch das letzte Jahr zieht: das Verbissene, die Wut, die er tonnenweise in sich zu tragen scheint. Ihm war dahingehend sicherlich bewusst, dass die krasseren Songs die größte Aufmerksamkeit generieren und – das ist, denke ich, ein entscheidender Zusammenhang – ihn in der Wahrnehmung des Publikums und der Medien am authentischsten widerspiegelten; seine Musik verkauft sich in diesem Jahr jedenfalls mehr als je zuvor. Zu welchem Preis, fragt man sich? Auf den erwähnten ersten drei Alben ist sie noch zu finden: eine gewisse Sensibilität sowie Empathie. Irgendetwas hatte sich seitdem in ihm verschoben. Dabei war Tupac auch jemand, der mit seinen Songs stets um ein Sichtbarmachen von marginalisierten Positionen am Rande der Gesellschaft, jener lost souls, bemüht war. Der das Leid in sich und seiner Umgebung zu erspüren und zu beschreiben versuchte. Und einer der wenigen, der im Hip Hop der frühen Neunzigerjahre in seinen Texten sexuellen Missbrauch und Gewalt gegen Frauen ansprach. »I wonder why we take from our women/ Why we rape our women, do we hate our women?«, fragt er sich auf »Keep Ya Head Up«. Dass er dabei nicht weniger Produkt seiner Umgebungen, seines Aufwachsens in einer patriarchalen Gesellschaft gewesen war, versteht sich fast von selbst. »A man can be sexist and compassionate to women at the same time. I was.« Es wird hierbei oft salopp von seiner ambivalenten Persönlichkeit gesprochen, von seiner »bösen« und »guten« Seite. »I’m an actor and […] a poet. So I felt like […] I have to tell the multifaceted nature of a human being.« Anfangs, so scheint es, geht er in seiner Kunst (in einer Art Binnendialog) noch stets aus diesen widersprüchlichen Positionen an die Wirklichkeit heran – das ist sozusagen sein Verfahren, um jene mannigfaltige Realität, wie er sie erfährt, in den Griff zu bekommen. Ein Verfahren, in dem er meist der Beobachter, der Berichterstatter ist, manchmal aber auch derjenige, der direkt mitmischt. Es ist ein Verfahren, das seine ganz eigene Dramaturgie entwickeln sollte.
5
Es ist der Abend des 30. November 1994. Tupac betritt die Quad-Aufnahmestudios in Downtown Manhattan. Dort soll er ein paar Zeilen für einen Song von Little Shawn aufnehmen (einem heute völlig vergessenen Rapper, der es mit seinem smoothen Partytrack »Dom Perignon« Mitte der Neunziger zu kurzer Bekanntheit bringt), wofür ihm eine Gage von 7000 Dollar angeboten wird. Tupac benötigt das Geld, er ist in diesem Herbst aufgrund horrender Anwaltskosten eines eineinhalb Jahre zurückliegenden Gerichtsverfahrens in Atlanta fast Pleite. Was Tupac zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht ahnt: Die Gage für sein Feature ist als Köder gedacht. Als eine Falle. Er ist hier, um ausgeraubt zu werden, um zur Vernunft gebracht zu werden.
Tupac oszillierte ab 1991 quasi zwischen Aufnahmestudio und Filmset, zwischen Promi-Leben und Gangkultur. Eine Dynamik, die, denke ich, wichtig zu reflektieren ist. Von Beginn seiner Karriere befindet er sich unter dem Brennglas der amerikanischen Öffentlichkeit und gleichzeitig in giftiger Nähe zu einer Schattenwelt aus Kriminalität und Gewalt. Ständig ist er in den Nachrichten, scheint darüber hinaus wie magnetisch Ärger mit dem Gesetz anzuziehen. Im medialen Narrativ und politischen Klima der frühen Neunziger steht seine Musik (und harter Rap im Allgemeinen) ohnehin unter dem Generalverdacht, verrohend und disruptiv auf Kultur und Gesellschaft zu wirken¹ – eine Art moralische Panik, die in den USA spätestens seit den späten Fünfzigerjahren Tradition hat.
Und dann sieht man ihn wieder zusammen mit Madonna, Sting oder Mickey Rourke, hört ihn über seine Rolle als Schauspieler philosophieren, bemerkt, wie besonnen, fast zart er dabei wirkt. Oft wird vergessen, dass Tupac sich in erster Linie tatsächlich als Schauspieler sah, das betonte er immer wieder. »I’m an actor who raps in his spare time«, sagt er im Juni ’96 während eines Interviews am Set der Low-Budget-Krimikomödie Gridlock’d. Ein Beruf, der, wenn man so will, doch eigentlich nicht für besondere Charakterfestigkeit bekannt ist. War er letzten Endes jemand, der Musik nur als Vehikel nutzte, um in Hollywood als Schauspieler Fuß zu fassen? Es scheint dies sein inneres, sein eigentliches Thema gewesen zu sein.
Für Rollen wie für das New Yorker-Basketballdrama Above The Rim, begab er sich sogar in die Nähe Krimineller, mischte sich unter die Gesellschaft von Dealern und Pushern, um seine Filmfigur auf der Leinwand möglichst authentisch erscheinen zu lassen. Als Inspiration dienten ihm wohl hierbei zwei besonders zwielichtige Gestalten der New Yorker-Unterwelt, die er während der Dreharbeiten im Frühjahr 1993 in einem Club in Manhattan kennenlernte – Johnny Henchman und Haitian Jack. Beide bestens mit namhaften Produzenten, Partyveranstaltern und DJs der Stadt vernetzt, führten Tupac im Gegenzug in die Vorzüge eines exklusiven Nachtlebens ein, nahmen ihn mit in die VIP-Lounges der Clubs, spendiertem ihm sündhaft teuren Alkohol und kubanische Zigarren. Und taten dies nicht ohne Kalkül. Denn es ist vor allem Henchman, der seit geraumer Zeit versucht, Tupac für seine Zwecke zu gewinnen. Es geht um einen Managementdeal. Und es geht auch um die soeben von Puff Daddy gegründete Plattenfirma Bad Boy. Henchman und Jack agieren hier sozusagen als Handlanger, versuchen Tupac insgeheim aus seinem Vertrag mit Interscope Records abzuwerben, um ihn weiter an Puffy zu vermitteln, der in jenem Herbst ’93 gerade dabei ist, das Roster für sein eigenes Label auf die Beine zu stellen (das erste Signing: Biggie Smalls). Doch Tupac weigert sich offenbar stetig, den bemühten Versuchen Henchmans nachzugeben, ihm in dieser Angelegenheit als Manager zur Seite zu stehen (es ist außerdem die Rede von einer saftigen Summe Geld die Tupac den beiden schuldig gewesen sein soll). Laut dem ehemaligen LAPD Kriminalpolizisten und Murder Rap-Autor Greg Kading gibt es daraufhin Pläne, Tupac »eine Lektion zu erteilen«.
An jenem Abend des 30. November 1994, an dem Tupac – so die offizielle Version – bei einem missglückten Raubüberfall fünf Mal angeschossen wird², entsteht dann auch das heute ikonische Schwarz-Weiß-Foto eines offenbar schwer verwundeten, mit Verbänden eingerollten Tupacs auf einer Bahre, den blutigen Mittelfinger in die Kamera gestreckt. Der Mittelfinger galt laut Augenzeugen jedoch nicht wie heute meist angenommen wird, dem Fotografen, sondern der Personengruppe um Puff Daddy und Biggie Smalls (mit denen Tupac eigentlich befreundet ist), die, in einer Art verheerendem Zufall³, sich zur selben Zeit im Gebäude befanden und nun unten am Flatterband vor dem Krankenwagen stehen. – Bereits drei Tag später erscheint ein sichtlich mitgenommener Tupac mit schmerzbeladenem Gesicht in einem Rollstuhl vor Gericht; er wird sich dort der Anklage der Vergewaltigung stellen müssen.
Die Anzeige erhebt eine junge Frau namens Ayanna Jackson. Tupac hatte Jackson ein Jahr zuvor bei erwähnten Dreharbeiten in einem New Yorker-Club kennengelernt. Danach treffen sich die beiden wohl noch mehrere Male, haben einvernehmlichen Sex. In ihrer Aussage vor dem State Supreme Court in Manhattan gibt Jackson an, dass Tupac und seine drei Freunde bei einem weiteren Treffen »wie Tiere über mich herfielen«. »He took advantage of his stardom to abuse me and betray my trust,« sagt sie weiter aus. Vor Gericht plädiert Tupac auf unschuldig. Sein Verteidiger behauptet, Jackson habe alle Anschuldigungen aus Eifersucht erhoben, weil sie ihn im Hotelzimmer mit einer anderen Frau sah. (Ein klassischer Fall von Victim Blaming: Dem angeblichen Opfer wurde hier also selbst die Schuld zugesprochen.) Dort, so Jackson weiter, waren sie und Tupac also (tatsächlich) verabredet, lagen gemeinsam im Bett, als irgendwann weitere Personen in das Zimmer kamen, sich ihr aufdrängten. Hierzu ist auch das eindrückliche (und bisher auch einzige) Interview mit Jackson auf dem Youtube-Kanal VladTV empfohlen. In diesem aufgrund der manchmal etwas lücken- und sprunghaften Erzählweise Jacksons oft als Lügengeschichte missverstandenen Interview wird klar, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Tupac selbst war, der Jackson vergewaltigte, aber der es aus unerfindlichen Gründen zuließ, dass mehrere Männer (unter anderem besagter Haitian Jack) mit ihr nicht-einvernehmlichen Sex hatten.
Bis zum heutigen Tage ist der Fall Gegenstand hitziger Diskussionen und laut Greg Kading »der wichtigste und folgenreichste in der Geschichte des Rap«. Kading hat mit dieser leicht maximalistischen Behauptung wohl nicht ganz unrecht, könnte man jenen Vorfall, der eine Kette fataler Ereignisse auslöst, tatsächlich als raphistorisches Schlüsselereignis bezeichnen. Man könnte sagen, dass der Beginn von Tupacs Karriere auch den Beginn einer Reise markiert, auf dieser der Beobachter (der selbst ernannte Schauspieler und Dichter), jener, der mit Wörtern an die Wirklichkeit heranzukommen versucht, sich im Laufe der nächste sechs Jahre immer mehr in ihr verrennt. Unverschuldet ist das Ganze demnach nicht, und auch wenn der Fall in Fankreisen für gewöhnlich sehr einseitig diskutiert wird: Es ist nicht abzustreiten, dass das kriminelle Umfeld (und Tupacs offensichtliche Angst und Überforderung damit), in das er sich während der Dreharbeiten zu Above The Rim bewusst einklinkt, maßgeblich mit dem Vergewaltigungsfall in Verbindung steht. Für die Medien ist das Ganze jedenfalls ein gefundenes Fressen und passt genau in jenes dämonisierende Narrativ einer Schwarzen Rapmusik und ihren jungen, »zügellosen« Protagonisten. Vor Gericht heißt das abschließende Urteil ein Jahr später im Dezember 1994 dann »schuldig«: In drei Fällen wird Tupac wegen sexuellen Missbrauchs zu eineinhalb bis viereinhalb Jahren verurteilt. Jackson erhält daraufhin Drohanrufe, wird als Verräterin und mutwillige Karrierezerstörerin beschimpft, zieht sich in Folge radikal aus der Offentlichkeit zurück. »I hope in time you’ll come forth and tell the truth – I am innocent«, wird Tupac abschließend vor Gericht sagen. Laut Ayanna Jackson wendet er sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit dann noch mal persönlich an sie, entschuldigt sich unter Tränen. Bis zu seinem Tod wird er in Interviews und in zahlreichen Songs vehement seine Unschuld beteuern (beschuldigt Jackson sogar, dass sie das Umfeld um Henchman und Jack kannte, und ihn so in eine Falle lockte). Gleichzeitig scheint es in ihm jedoch eine gewisse Erfahrung von Reue angestoßen zu haben. In Songs wie »Never Call U Bitch Again« oder erwähntem »White Man’z World« scheint er sich selbstreflektierend seiner indirekten Schuld bewusst. In letzterem Song, aufgenommen im Juli ’96, der sicherlich zu einem seiner besten zählt, heißt es:
Apologies to my true sisters, far from bitches
Help me raise my Black nation, reparations are due
It’s true, caught up in this world I took advantage of you
Seine stets beschworene, als empowernd gedachte Thug Life-Maxime, so weiß er nun, trägt ebenso zum Topos einer frauenverachtenden Rapkultur bei. Seiner oftmals merkwürdigen Widersprüchlichkeit war er sich also sicherlich bewusst, doch zog ihn das nicht aus der Verantwortung.
Every woman in America, especially Black
Bear with me, can’t you see that we under attack?
I never meant to cause drama to my sister and mama
Hope we make it to better times, in this white man’s world
Fast lesen sich diese Zeilen wie eine Art Selbstfindung eines Fünfundzwanzigjährigen, der sich zudem noch mal seinen Anfängen vergewissert. Denn ging es in dieser Ausdrucksform ursprünglich nicht auch um politische Bestrebungen, um den Widerstand gegen die Unterdrückung seitens eines weißen Amerikas? Um Selbstermächtigung und Zusammenhalt? In jenen Textpassagen zeigt sich zudem, wie tief Rassismus und Sexismus in jener amerikanischen Gesellschaft eingewoben beziehungsweise unentrinnbar miteinander verzahnt sind – Schwarze Frauen ringen gemeinsam mit Schwarzen Männern gegen rassistische Diskriminierung, und erfahren von ihnen gleichzeitig Sexismus. Ob Tupac sich in den zitierten Textzeilen von »White Man’z World« darüber hinaus auf das Combahee River Collective, einer Gruppe Schwarzer Feministinnen aus Boston, bezog, die Anfang der Siebzigerjahre lautstark auf Mehrfachdiskriminierungen Schwarzer Frauen innerhalb eines patriarchalen Systems aufmerksam machte, sei dahin gestellt. Immerhin entsprang er einer Lebenslinie, die in jenem hoch politisierten Klima sozialer Bewegungen begann.
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Es ist eine Lebenslinie, die von Beginn an von Armut, Entmachtung sowie gleichermaßen von Aktivismus bestimmt ist. Die im Juni 1971 in Harlem während der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung beginnt, inmitten politischer Veranstaltungen und Demonstrationen, meist organisiert von seiner Mutter Afeni Shakur. In ihr war es folglich fest verankert: ein viertel Jahrhundert an Unterdrückung und Rassismuserfahrungen. Und auch sie saß eine Zeitlang wegen »Verschwörung« im Gefängnis. Es ist eine Art generationsübergreifendes Kraftfeld, dem sich Tupac nicht entschlagen kann. Regelmäßig wird er sie in seinen Texten zitieren, jene politischen Gefangenen der Black Panther-Party, Mutulu Shakur, Geronimo Pratt, Mumia Abu Jamal, Sekou Odinga. In diesem Erbe scheint es zudem angelegt, der radikale Freiheitswille, die rhetorischen Skills, der ungeheuer feine Ungerechtigkeitssinn, aber auch das Militante, Soldatische. War das ein Zuviel? Ein biografischer Überschuss, ein Zuviel an Geschichte? Ein explosives Potenzial, welches hierin lauerte? Eines, das nie von einer Vaterfigur ausgepegelt werden konnte? Es ist jedenfalls eine spezielle Energie, ein System der Unruhe, das ihn von Anfang an umtreibt. »He had the fire in his eyes«, sagt Treach von der bekannten Hip-Hop-Formation Naughty By Nature, einer der zeitlebens engsten Freunde Tupacs. Immerhin musste er als Teenager mitansehen, wie das FBI erst die Panthers zerschlug, wie seine Mutter daraufhin obdachlos wurde, keine Arbeit fand, in die Crackabhängigkeit abrutschte. Worauf sollte er in dieser ganzen Ungeborgenheit zurückgreifen? Was erwies sich als tragfähig? Von Beginn an sieht er die Welt sozusagen als Wunde. (Und viele Jahre später, wie Holler If You Hear Me-Autor Michael Eric Dyson schreibt, lässt es möglicherweise ein Schuldgefühl heranwachsen, sich mit steigendem Erfolg immer mehr von jenen Wurzeln entfernt zu haben.)
Von ganz unten kam er also zweifelsohne. Wuchs ohne Vater auf, zog mitsamt Mutter und Schwester viel um. Erst New York, danach Baltimore (wo er eine Zeitlang Schauspiel studieren konnte), dann einmal quer durch die USA, an die Westküste nach Marin City, einer Sozialbausiedlung nördlich von San Francisco. Dort entstehen in den Treppenhäusern, den sogenannten Jungles, Mitte der Achtzigerjahre auch die ersten Zeilen und Freestyles. Manchmal sitzt er abends mit Freunden auf den Dächern der Siedlung, trinkt, raucht eine Menge Weed und schaut hinüber zur schillernden Bucht von Tiburon, einer wohlhabenden, überwiegend weißen Gemeinde am gegenüberliegenden Ufer der Bay, die trotz seines verinnerlichten Argwohns wie ein Aufschein einer besseren Zukunft gewirkt haben muss. Und bald scheint sich tatsächlich eine Chance aufzutun: In einem Jugendclub wird er bei einem Poetry-Workshop von der Leiterin Leila Steinberg entdeckt, die ihn ein paar Monate später als Roadie und Background-Tänzer an die Oakland-Funk-Rap-Formation Digital Underground vermitteln kann, die zu diesem Zeitpunkt mit dem Groove-Monster »The Humpty Dance« einen überraschenden Hit landet. Oakland war in den späten 1980ern noch weit entfernt vom heutigen Boom der Bay Area und der damit einhergehenden Gentrifizierung: Die Stadt war geprägt von einer rauen Arbeitermentalität, war berüchtigt für ihre Bandenkriminalität und Drogenhandel, galt als the land of the hustle. Gleichzeitig existierte dort bereits eine familiäre Subkultur an Hip Hop und R&B, aus welcher allseits bekannte Namen wie Too $hort, MC Hammer und auch Digital Underground hervorgingen. In dieser flirrenden Umgebung bewegte sich ein damals ein 19-Jähriger Tupac: Äußerlich von eher zierlicher Erscheinung, doch dabei mit scheinbar unbändiger Energie, Wissensdurst und Selbstbewusstsein ausgestattet, mit seiner ganz eigenen Unruhegeschichte – dem gewissen Feuer in den Augen. Es entsteht zu dieser Zeit sein erstes Demotape, die ersten Songs, das erste Album. In den Straßen Oaklands lernt er allerdings auch wie die Dinge laufen, passt sich an, wird bei einer Personenkontrolle von Polizeibeamten (die nicht begreifen wollen, dass sein Name tatsächlich Tupac Shakur ist) niedergeschlagen, und besorgt sich bald darauf selbst eine Waffe; eine AK 47.
In Oakland lernt er nach eigener Aussage auch etwas, das ihm bis bisher verwehrt blieb: das game der Straße. »Pac was like a chameleon«, wird ein enger Freund Tupacs in Connie Brucks fulminantem Artikel in The New Yorker vom Juni ’97 zitiert, »whatever he was around, that’s what he turned into.« Sein Ton wird nun rauher, vulgärer. Doch trotz des angeberischen Machotums, das ab 1993 sein öffentliches Image bestimmen sollte, scheint er in dieser Welt nie ganz akzeptiert zu werden, wird als Außenstehender, als Betrachter, als fake gangsta gesehen, wie Bruck in ihrem Artikel weiter berichtet. Sein Erscheinungsbild, dem immer irgendwie auch etwas Feingliedriges, Androgynes anhing, war dabei sicherlich nicht zuträglich. So hat er stets das Gefühl, sich in jener Welt beweisen, noch lauter und härter als der Rest sein zu müssen; in Marin City, in Oakland, dann später im Gang-infizierten Los Angeles. »Ich war der Außenseiter. Ich konnte nicht Basketball spielen, […] war die Zielscheibe für die Straßenbanden, […] dachte, ich sei seltsam, weil ich Gedichte schrieb, und ich hasste mich selbst, ich hielt es geheim. . . Ich war wirklich ein Nerd«, sagt Tupac selbst über seine Schulzeit Mitte der Achtzigerjahre. Das viele Umziehen, das von Anfang an nirgendwo wirklich Hingehören, die dadurch entstandenen Skills, sich seinen Umgebungen wie ein Chamäleon anzupassen, das gleichzeitige Überkompensieren einer vaterlosen Kindheit und dem damit verbundenen Gefühl einer beraubten Männlichkeit – eignete er sich als Rapper somit zeitlebens eine verlässliche Identität an, die seine künstlerische, nerdige Seite in der Anwesenheit von »echten« Gangstern (und an diesem Typus mangelte es in der aufstrebenden Rap-Industrie keinesfalls), unterdrücken sollte? Die er mehr im Schauspiel ausleben konnte? Es bestätigt in vielerlei Hinsicht einen spannungsgeladenen Lebensstil, einen inneren Konflikt: Dem unbedingten Streben nach Anerkennung und Glaubwürdigkeit, und gleichzeitig, der unverblümte Umgang mit den inneren Wunden, seinen Unsicherheiten, seinen Widersprüchen. Und daher wohl auch die direkte Sprache, die meist einfachen Texte, das straight from the heart; ohne Umschweife sollte es das Wesentliche, das Elementare betreffen. Sieht man ihn in Interviews, so braucht es manchmal nur einen entsprechendes Wort, eine Äußerung, eine bestimmte Fragestellung, dann gerät er sofort in Aktion, stark gestikulierend, mit wortgewandter Überzeugung. Das Panther-Erbe. Wieder muss ich an den Begriff des »Revolutionär« denken, jene narrative Schablone, ohne die heutzutage kein Bericht mehr auszukommen scheint. War da vielleicht doch etwas dran? Zweifelsohne hatte er die rhetorischen Fähigkeiten, das Charisma und wahrscheinlich auch die intellektuelle Weitsicht in seiner direkten Umgebung etwas Positives zu bewirken, Menschen füreinander zu gewinnen. Gleichzeitig aber auch das Talent, eigene kleine Machtsysteme zu errichten; Gruppen wie Thug Life und später The Outlawz konnte er mobilisieren wie auch eigenhändig wieder spalten.
Es sind besonders zwei Autoren, die dieses innere System der Unruhe zu befeuern scheinen, ihm ein geistiges Fundament geben. Tupac – so zumindest ist es überliefert – war ein eifriger Leser. Bereits früh kam er auf seiner Suche nach »deep stories and raw human needs« mit J.D. Salinger oder Lorraine Hansberry in Berührung, später waren es die Texte der Schwarzen Bürgerrechtlerin Maya Angelou, die Memoiren von Malcolm X sowie unter anderem die Tagebücher von Anaïs Nin. Dann, als er mit dreiundzwanzig im Gefängnis einsitzt, sind es also die Ideenwelten Sun Tzus und Niccolò Machiavellis auf die er zurückgreift, die die äußere wie innere Leere füllen. Vor allem The Prince von Machiavelli ist in diesem Kontext interessant, ist es doch vor dem Hintergrund der Folter und der Einkerkerung seines Autors zu lesen. Geschrieben hatte Machiavelli das Büchlein direkt nach seiner Freilassung; es war sozusagen seinen Folterern gewidmet. Darin geht es um Selbstermächtigung (zentraler Begriff in The Prince ist die »Virtù«, eine Art Machtkonzept) die aus der eigens erfahrenen Machtlosigkeit Machiavellis rührt. Der Soziologe Andreas Kemper schreibt dazu: »Virtù ist der Stream, der [Machiavelli] auferstehen lässt, der ihn sozusagen am Leben hält, ein Machtgeflecht, eine eigene Realität, in der die Traumatisierung nicht aufgearbeitet werden muss, sondern im Gegenteil, die sich aus der Akkumulation immer neuer Traumatisierungen speist.« Mit diesen beiden Büchern, The Prince und The Art Of War, scheint Tupac sich innerlich für die Zeit nach dem Gefängnis zu wappnen, in ihnen seine Wut und Verzweiflung zu verankern. Denn es sieht erstmal alles danach aus, als müsse er die volle Haftstrafe von viereinhalb Jahren absitzen. Es geht nun also um eine Strategie, einen Panzer – um psychische Stärkung. Weniger allerdings im Theweleitschen Sinne um einen Körperpanzer als mehr um ein eisernes Mindset. Nicht, weil die Zeit im Gefängnis sonderlich hart für ihn ist, sondern um draußen in der Musikindustrie – jene »Wilderness«, wie Tupac sie nennt – überlebensfähig(er) sein zu können. In der aktuellen Männerforschung, so Kemper weiter, würde jener, der der »Virtù« mächtig ist als ein Repräsentant hegemonialer Männlichkeit beschrieben werden. Und, in diesem Kontext besonders spannend: »Die ›Virtù‹ hat seine Berechtigung, aber nur innerhalb eines bestimmten Systems. Es erlaubt das kurzzeitige Überleben in Gefangenschaft, sollte aber dringend ersetzt werden durch eine Traumaaufarbeitung, sobald diese möglich ist.« Für eine Aufarbeitung war jedoch keine Zeit – der Plan war längst geschmiedet, wurde von Rachefantasien beherrscht. Gleich nach seiner Entlassung wird Tupac den brachialen (und grotesk überbewerteten) Rundumschlag »Hit ’em Up« aufnehmen. »Prison ain’t changed me – it made me worse«
7
Der Ausweg aus dem Gefängnis tut sich im September 1995 auf. Suge Knight und sein Anwalt fliegen von Los Angeles nach Upstate New York, nach Rykers Island, bieten Tupac an, seine Kaution von 1,3 Millionen Dollar zu begleichen, ihn somit freizukaufen. Im Gegenzug müsse er für Knights Label Death Row drei Alben abliefern. Tupac, gedemütigt und desillusioniert von den Ereignissen des zurückliegenden Jahres, willigt ein und unterschreibt den von Knight-Anwalt Kenner auf ein Stück Toilettenpapier gekritzelten Vertrag. Zu jener Zeit ist Death Row das Aushängeschild für harte wie kommerziell außerordentlich erfolgreiche Rapmusik – und im eigentlichen Sinne keine Unternehmenszone. Suge Knight, tief verwurzelt in der Gangkultur von Los Angeles, stellt mit Vorliebe frisch aus dem Gefängnis entlassene Ex-Sträflinge als Security für sein Label ein, um so eine Drohkulisse zu schaffen, die seine wirtschaftliche Interessen durchsetzen soll. Unzählige skurille, mitunter verstörende Anekdoten aus jener Zeit scheinen dies zu belegen und anfangs trägt jene schonungslose Geschäftspraktik tatsächlich Blüten. Bereits im ersten Jahr der Gründung kann Knight mit Label-Partner Dr. Dre und dessen Megaseller The Chronic bereits über 100 Millionen Dollar generieren. In den nächsten drei Jahren folgten nicht minder erfolgreiche Alben wie Snopp Doggy Dogs luftiger, Parliament-beeinflusster, herrlich idiotischer Gansta Funk auf Doggystyle oder der Above The Rim-Soundtrack mit seiner unsterblichen Lead-Single »Regulate« von Warren G und Nate Dogg.
Als es im Herbst 1995 also danach aussieht, als ob Tupac noch eine längere Zeit hinter Gittern verbringen wird, als er sieht, dass sein drittes Album Me Against The World zuvor Springsteens The Ghost Of Tom Joad überholt und die Spitze der amerikanischen Albumcharts erklimmt, als er über Freunde und Bekannte mitbekommt, dass sein früherer Kumpel und Protegé Biggie Smalls in diesem Sommer mit mehreren Hit-Singles (darunter das unglücklich betitelte »Who Shot Ya«⁴) ebenfalls durch die Decke geht und seinen Erfolg sogar in vollen Zügen auskosten kann, als er sich plötzlich ungesehen fühlt im Klima der immer schneller wachsenden Erfolgsgeschichte Hip Hop, muss ihn die blanke Eifersucht überkommen haben. Was Tupac noch nicht weiß: seine Plattenfirma, bei der er sich bis dato eigentlich gut aufgehoben und vertreten fühlt, wird zunehmend ratloser, wie die problembehaftete, Strafakten anhäufende Figur Shakur weiterhin zu vermarkten sei. Me Against The World steht zwar ganz oben in den Charts, doch abgesehen von zwei Musikvideos sieht Interscope weitgehend von einer PR-Kampagne ab. Bald darauf wird sein Label das Projekt Tupac Shakur an sein auf Straßensound spezialisiertes Sub-Unternehmen Death Row Records weitergeben. Für Death Row kommt dieser Auftrag zum richtigen Zeitpunkt, spielt Tupac mitsamt seines Troublemaker-Images der Ausrichtung des Labels nicht nur wundersam in die Karten, sondern ist insgeheim perspektivisch sogar überlebenswichtig: Snoop Doggy Dog, einer der schillerndsten Stars Death Rows, ist zu jener Zeit in einen langwierigen Gerichtsprozess verwickelt und dementsprechend künstlerisch lahmgelegt, außerdem wird gemunkelt, Dr. Dre plane aufgrund des steigenden Gangeinflusses die Plattenfirma zu verlassen (was er Anfang 1996 dann auch tut). Es musste also umgehend Ersatz gefunden werden, wolle man in Zukunft nicht in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Knight muss dies gewusst haben als er mit seinem Anwalt Kenner ins Hochsicherheitsgefängnis von Rykers Island flog. Nach dem Einklinken ins kriminelle Milieu von New York, sollten sich für Tupac allmählich zum zweiten Mal im Hintergrund die Dinge auf verhängnisvolle Weise ineinanderschieben.
Dabei ist das Projekt zunächst eine echte Erfolgsgeschichte. Die ersten Wochen und Monate nach seiner Freilassung verbringt Tupac quasi im Aufnahmestudio, arbeitet wie besessen daran seinen Vertrag über drei Alben zu erfüllen. Die erste Single, Dr. Dres Leihgabe »California Love«, hievt Tupacs Karriere dann erst einmal aufs nächste Level und bereits im Januar 1996 ist das dazugehörige Album im Kasten. Und der Plan geht auf: Binnen Wochen verkauft sich All Eyez On Me millionenfach. In der Geschichte der Rapmusik gilt es als erstes geglücktes Experiment eines Doppelalbums und ist so wundersam dicht an Hits wie – und das fiel mir beim Wiederhören besonders auf – gleichermaßen steril in seiner überzeichneten Darstellung eines hedonistischen Gangstertums. Hier will nichts mehr aus einer Metaebene betrachtet werden, sondern soll straight up ins Ohr, in die Fresse gehen. Zu viel Zeit wurde vergeudet, zu tief sitzt offenbar die öffentliche Demütigung der letzten zwölf Monate. »This year will mark a new ground for Tupac where I’m relentless. There’s no boundaries. I’m not looking at no stop signs. I’m going full speed ahead«, sagt er in einem Interview inmitten der Arbeit an All Eyez On Me.
Und auch abseits des Studios scheint es in diesem Jahr kaum Grenzen zu geben. Es geht um Intensität, um Luxus, um Parties und eine Menge Sex. Death Row gewährleistet Tupac ein materielles Leben im Überfluss, eines im Zeitraffer, auf der Überholspur. Eines, das nicht nur seines Eigenes, sondern auch das seiner Familie und Freunde grundlegend verändert. Von »astronomischen« Rechnungen für Hotelzimmer oder Goldschmuck ist die Rede, von schillernden Wochenenden in Las Vegas oder an der mexikanischen Küste von Cabo San Lucas. Suge Knight sorgt außerdem dafür, dass Tupacs Mutter Afeni Shakur ein eigenes Haus an der Ostküste überschrieben bekommt und bringt sie und ihre Großfamilie bei Besuchen in Los Angeles in luxuriösen Hotels in Westwood oder Beverly Hills unter. Unterdessen arbeitet Tupac in einem fort. Es ist schwer vorstellbar, aber in den knapp zehn Monaten von Freilassung bis zu seinem Tod wird er nicht nur mehrere Konzerte spielen, drei ganze Filme und zahlreiche Musikvideos abdrehen, sondern auch an die zweihundert Songs aufnehmen (viele dieser mir bis vor einigen Jahren noch gänzlich unbekannten Demoaufnahmen finden sich als Remixe auf posthum veröffentlichten Alben wie Until The End Of Time oder Better Dayz, welche größtenteils frustrierend anzuhören sind; verzerren sie mit ihrer meist viel zu souligen, zu homogenen Produktion doch genau das, was seine Kunst zu Lebzeiten so anziehend machte.) Wirkliche Genugtuung bietet ihm all die Arbeit offenbar jedoch nicht. Irgendetwas nagt an ihm. »You want some macho shit!? I’m the most macho nigga out here, I thought you knew, I’m the most thuggish nigga out here«, sagt er in seinem erratisch-aufbrausenden Interview mit dem Vibe-Magazin im Mai 1996. Das alte Defizit. Da ist immer noch Mangel an Respekt, an Anerkennung, der ihn rasend zu machen scheint, vor allem seitens puristisch eingestellter Musikmedien oder Rappern der Ostküste, die ihm vorwerfen, Hip Hop zu »zerstören« und in die »falsche« Richtung zu manövrieren. »Why is it not ›Hip Hop‹ when I do it!? […] I did more for the east coast than the east coast did. I put them niggas on more weed spots and safe havens than the east coast did. I put more rappers on than they did… I gave Biggie [Smalls] his first show!« Nicht nur ist es eine Missgunst und Verlogenheit, die er in der Musikindustrie offenbar erfahren musste, sondern vielmehr wohl auch die Vorahnung, hierin sein Talent, seine Stimme, letztlich seine kostbare Lebenszeit und Energie zu vergeuden, die ihn so wütend macht. Und vielleicht war es auch das von Dyson beschriebene Schuldgefühl, sich immer weiter von seinen Wurzeln entfernt zu haben. Man hat den Eindruck, als könne er unter der Obhut Death Rows nun endgültig seine Glaubwürdigkeit, sein game unter Beweis stellen, doch als würde ihn seine inständige Loyalität der Plattenfirma und Suge Knight gegenüber zugleich überfordern. Er claimt unterdessen sogar seine Zugehörigkeit zu den Bloods (jene berüchtigte Los Angeles-Gang die Death Row als Drohkulisse dient), doch in vielen unveröffentlichten Tracks ist es spürbar, und auch das erwähnte The Don Killuminati-Album macht es kenntlich, dass hinter der Wut und dem egomanischen Großsprech wahrscheinlich genauso viel Angst und Paranoia steckte. »Will I survive all the fights and the darkness?« fragt er sich auf »Thugz Mansion«, jenem Song, dem er laut seiner Mutter Afeni Shakur ein gleichnamiges soziales Projekt widmen wollte. Anzeichen, dass sich die Dinge tatsächlich bald verdunkeln sollten, gab es zuhauf; nicht zuletzt auch wegen Death Rows offensiv nach Außen getragenem, als Provokation aufgefassten Bündnisses mit der Gangwelt wird er und das Label in gewissen Milieus unwillkürlich zur Zielscheibe. Laut Tupacs Entourage The Outlawz gingen in jenem Sommer regelmäßig Morddrohungen im Death Row Headquarter in Downtown Los Angeles ein. Und auch sein Anwalt Charles Ogletree erinnert sich in Connie Brucks The New Yorker-Artikel, als er Tupac kurz vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag noch einmal traf, »eine Traurigkeit in seinen Augen« gesehen zu haben aufgrund der vertraglichen Ketten durch Death Row, »die ihn immer noch fesselten.« Und daher auch das beinahe unglaubliche Arbeitspensum, von dem Zeitzeugen heute noch mit Staunen berichten. Mit irrer Geschwindigkeit rennt er in sein neues Leben hinein, sieht nicht, wie er dabei in das Verhängnis eines von Gangkultur und -logik gestützten Systems rennt – in eine gigantomanische Blase⁵ letztlich. Oder spürt er es insgeheim doch? Auf dem erst Jahre später veröffentlichten Song »Unconditional Love« rappt er, »My hopes and all my wishes/ So many vivid pictures/ And all the currency I’ll never even get to see/ This fast life soon shatters, ’cause after all the lights and screams nothin’ but my dreams matter.«
In der sehenswerten Dokumentation Thug Angel heißt es sinngemäß, Tupac sei ein Aktivist gewesen, der in einer aufstrebenden Hip Hop-Branche spektakulär verglühte. Auf seinen allerletzten Songs, »All Out« und »Hell 4 A Hustla«, aufgenommen am 6. September, wird es noch mal spürbar – das innere System der Unruhe, das explosive Potenzial, das sich zum Ende hin fast gänzlich in seiner Wut ausleerte. Auf jenen Demoaufnahmen ist er in seinem Selbstverständnis als Rapper, in seiner Präsenz und Bildsprache auf der absoluten Spitze seines Könnens angekommen, wirkt in seinem überbordenden Zorn auf alles und jeden, der Bad Boy Records und Biggie Smalls wohlgesonnen ist, jedoch mindestens genauso brüchig, ja verwirrt. Seine Stimme – wahrscheinlich befeuert durch literweise Alizé-Likör und kiloweise Weed – klingt rau, irgendwie besessen. Fast hat man den Eindruck, als sei Tupac, jener »Aktivist« und »Berichterstatter auswärtiger Gebiete«, am Ende zum Chronisten seines eigenen Wahns geworden.
To Vegas And Beyond
Tupacs Mordfall – der ganz nebenbei den riesigen Kollateralschaden namens Biggie Smalls⁶ verursacht – ist bis heute offiziell nicht gelöst, ist medialer Gegenstand aberhunderter konspirativer Aufmacher und Schlagzeilen. Doch im Grunde ist seine Erklärung allzu simpel: Um noch mal jenen Ersthelfer Chris Carroll zu zitieren, der erst fünfundzwanzig Jahre danach – zu einem Zeitpunkt, an dem die Wahrscheinlichkeit, dass der Fall offiziell noch gelöst würde, verschwindend gering ist – an die Öffentlichkeit tritt und indirekt den Schlussstrich unter jegliche Verschwörungserzählungen zieht: »People don’t wanna hear it, because it just all too simple. It has happened to a hundred of guys before Tupac, but they weren’t famous. We saw this script, so to speak, played out over and over again – somebody gets beat it up, they get a gun and even the score.« And that’s just the way it is.
Zahlreiche Fotos entstanden in der verhängnisvollen Nacht von Las Vegas. Darauf sieht man Tupac mit Fans oder irgendwelchen finster dreinschauenden Typen erst im Foyer des MGM Grand (durch das er mit seinem von Gianni Versace persönlich überreichten, bernsteinfarbenen Seidenhemd nimbusartig zu stolzieren scheint), dann vor dem Luxor-Hotel und schließlich auf der mittlerweile mythischen Aufnahme im schwarzen BMW von Suge Knight an einer roten Ampel. Auf jenen letzten Bildern wirkt Tupacs Gesicht angespannt, sein Lächeln in die Kamera irgendwie gezwungen. Vielleicht ist es klassische Überinterpretation, doch wahrscheinlich sickerte die Gewissheit langsam ein, einen folgenschweren Fehler begangen zu haben, als er nach dem Tyson-Kampf in einer labelinternen Auseinandersetzung und aus fiebriger Loyalität im Foyer des MGM-Hotels den berüchtigten Southside Crip-Gangster Orlando Anderson niederschlug. Er muss nicht nur geahnt haben, dass er dabei gegen seine Auflagen einer Bewährungsstrafe verstieß, sondern auch, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr unversehrt nach Los Angeles zurückkehren würde. Er kannte die Wirklichkeit, die gnadenlose Logik der Straße, aber er lebte in dem Selbstverständnis, dass sie ihm nichts anhaben konnte.
In seinem offiziell letzten Interview vom 26.08.96, mit Radiolegende Sway, sagt er: »By the next election, I promise, I’ll be sitting across from all the candidates. […] I’m gonna be so far from where I am now in four years. […] God willin’ I’m alive, it’s on, I guarantee you, we will have our own political party«. Fast scheint es, als habe er im Geiste bereits mit (dem eingelösten Hoffnungsprojekt) Rapmusik abgeschlossen und sich auf eine Zukunft als Schauspieler oder gar Politiker einstellen wollen. So auch in einem weiteren Interview aus demselben Monat vom Set seines letzten Films, dem Cop-Drama Gang Related mit James Belushi, in dem er gelöst wirkt, herumblödelt, über seine Pläne für ’97 spricht (»I’m gonna do 300 push-ups a day, starting January 1st. I really wanna push for the next generation of actors, entertainers, people whatever to be more physically fit«). Und dann wieder Death Row: das Überhebliche, der irgendwie verspannte, überzeichnete Habitus, wenn er mit Suge Knight vor der Kamera am Rande der MTV Music Awards zu sehen ist – »This ain’t no motherfuckin’ game!«
Es bleibt festzuhalten, dass die Geschichte von Tupac Shakur, wolle man sie in ihrer Komplexität erfassen, jenseits der Kategorien »Held« oder »Anti-Held« erzählt werden muss. Dass man Widersprüchliches dabei aushalten sollte, anstatt es zu glätten oder im Nachhinein wegzuwischen. Dass jene Geschichte somit auch keine homogene sein kann und im Grunde keine große These besitzt. Dass sie dadurch womöglich weniger überlebensgroß, letzten Endes aber umso konkreter erscheint. Und nicht zuletzt: Dass in dieser Erzählung die Musik des Rappers Tupac keineswegs den weniger interessanten Teil des Ganzen darstellt, denn in ihr fließt alles zusammen – alles Ambivalente, alles Abstoßende wie Anziehende, alles Rohe und Kompromisslose, alles Energiespendende wie Erschöpfende, alles Unvollkommene und Fragile. Bis heute hat seine Musik für mich nichts von ihrer rohen Faszination eingebüßt. Und dennoch bedarf es aufgrund des Zorns und der tiefen Unruhe, die vielen seiner Songs innewohnt, immer wieder einen gesunden Abstand. Darüber hinaus scheint sie dieser Tage von einem entfernten, seltsam vertrauten Klingeln, einem bittersüßen Beigeräusch durchsetzt zu sein.
Die Sache mit den unmittelbaren Augenblicken. Mit Musik ist es freilich wie mit Orten, auch sie kann wie eine vertraute Landschaft sein, in die man hineinläuft. Wie ein Altschmerz, in den man hineinstolpert, in dem man sich irgendwie geborgen fühlt. »Changes«, jener bereits 1992 aufgenommene, posthum erst gemixte Song, ist, wie bereits erwähnt, Ausgangspunkt meiner Geschichte mit Tupac Shakur und emotionales Fundament dieses kleinen Aufsatzes. Ein Song, dessen Text dabei einige Universen entfernt von der eigenen Lebenswelt erschien. An diesem Ort klaute man zwar auch, jedoch waren es keine aus existenzieller Not abgezogenen Handtaschen, sondern Süßigkeiten oder kleinere Actionfiguren, die man im Einkaufscenter zum Kick und vielleicht auch aus Langeweile geschwind einsteckte. Es war ein Ort mit einer sich ruhig ausbreitenden Landschaft, den geschwungenen Feldern, den frühlingsgrünen Wiesen mit den im Fluss stehenden Weiden und Erlen und einer sehr eigenen, melancholischen Stimmung. Mit der hohen blauen Luft, dem enormen Himmel, dessen Anblick mich immer wieder erstaunt hatte. Von dort war ich zuvor wieder losgezogen, sah, als ich aus dem Haus ging und mich umdrehte, nun das Licht in der geöffneten Tür und das hellerleuchtete Küchenfenster daneben. Und erst als ich von dem Gehweg mit dem mannshohen Thujadickicht rechts auf die Hauptstraße einbog, endete der Rhythmus meines Abschieds, der mich von den Umzugskartons im Keller und dem alten Kinderzimmer in das matte Licht des gefliesten Flurs und die warme Abendluft geführt hatte. Ich blieb stehen und erinnerte mich.
Dieser Text ist in englischer Fassung in der dritten Ausgabe von LÄRM – Nostalgia and Reason erschienen.
Anmerkungen
1 Im April 1992 erschießt Ronald Ray Howard in Texas bei einer Verkehrskontrolle einen Polizisten, wird daraufhin zum Tode verurteilt. Howard wird aussagen, Tupacs Song “Violent” hätte ihn zu der Tat angestachelt. Der Fall löst eine große Debatte aus. Es entzündet sich ein politischer Kulturkampf, in dem Tupacs Musik ins Kreuzfeuer gerät. Im Zuge dessen ruft der damalige Vizepräsident und Republikaner Dan Quayle öffentlich dazu auf, das just erschienene Album 2Pacalypse Now aus den Läden zu verbannen. “There is absolutely no reason for a record like this to be published in our society.”
2 Laut Tupacs eigener Aussage wurde er bei dem versuchten, von Henchman und Jack initierten Überfall fünf Mal aus nächster Nähe (darunter auch ein Mal in den Kopf) angeschossen. Murder Rap-Autor Greg Kading wiederum behauptet, dass Tupacs Schusswunden allesamt von ihm selbst stammen. Als er sich gegen die Angreifergruppe mit seiner eigenen Waffe zu verteidigen versucht, soll sich in der Hektik des Moments ein Schuss aus ihr gelöst haben, der, so Kading, sich ganze weitere vier Male durch seinen Körper bohrt. Tupacs Kopfverletzung stammt anscheinend von einem Schlag mit einer Pistole von einem der Angreifer, so Kading weiter. Die Oral History wird hier abermals vielstimmiger, durchaus schwammig und liefert, wie schon im Zusammenhang mit der verhängnisvollen Nacht in Las Vegas, wieder feinsten mythologischen Garn.
3 Dieses Ereignis kann wohl als einer der Grundsteine für den (heute vollkommen auserzählten) Beef zwischen Biggie und Tupac, zwischen “Ost- und Westküste” gesehen werden. Tupac beschuldigt Anfang ’95 in einem Interview mit Vibe Magazin öffentlich Puff Daddy und Biggie Smalls, mit Haitian Jack und Johnny Henchmen unter einer Decke zu stecken. Insgeheim muss Tupac jedoch gewusst haben, dass insbesondere Biggie Smalls nicht in die Planung oder Durchführung des Überfalls involviert war – Biggie soll Tupac sogar vor der Skrupellosigkeit Haitian Jacks gewarnt haben. Laut Nashiem Myrick, einer von Biggies Produzenten, besuchte Sean “Puff Daddy” Combs Tupac sogar im Gefängnis, um dies klarzustellen und die Dinge wieder gerade zu rücken. Zu diesem Zeitpunkt befand sich erwähntes Vibe-Interview allerdings bereits im Druck. Tupac wusste freilich, wie er seine erfahrenen Kränkungen medienwirksam inszenieren konnte; wie profitabel das Spiel mit Kontroversen, mit Hype und Aufmerksamkeit, letztendlich für ihn sein würde. Auch hier schien er sich möglichen Konsequenzen kaum bewusst.
4 Der Song wurde bereits 1994 vor dem Überfall auf Tupac aufgenommen und 1995 als B-Seite der Single “Big Poppa” veröffentlicht. Jener Song schien Tupacs Verdacht, Puff Daddy und Biggie Smalls wären in den Überfall irgendwie verwickelt, nur noch zu bekräftigen.
5 Laut Afeni Shakur besaß Tupac zum Zeitpunkt seines Todes gerade einmal um die 10.000 Dollar. Dies lag zum Teil darin begründet, dass Death Row Records Tupac in erster Linie nicht in Tantiemen, sondern überwiegend in materiellen, meist auf Death Row überschriebenen Dingen auszahlte. Ein Großteil Tupacs Luxuskarossen waren beispielsweise Leasings seines Labels. Hinzu kommt, dass Tupac gerne großzügig mit seinem Geld umging und oft saftige Beträge an Entourage, Freunde und Familie verschenkte.
6 Nüchtern betrachtet könnte man den Mord an Biggie Smalls am 9. März 1997, nach der Afterparty des Vibe-Magazins im Rahmen der Soul Train Music Awards in Los Angeles, tatsächlich als solchen bezeichnen. Als Tupac, “Cash Cow” von Death Row, von Southside Crips in Las Vegas (letztlich durch eigenes Verschulden) umgebracht wurde, galt es nun, Bad Boys “Cash Cow” Biggie Smalls auszuschalten: Laut Greg Kading, dem ehemaligen LAPD-Beamten und Autor von Murder Rap, hatte Suge Knight den Mord an Biggie Smalls als Racheakt für den Mord an Tupac in Auftrag gegeben. Die tödliche Schießerei wurde angeblich von einem engen Vertrauten Knights, einem berüchtigten Mitglied der Mob Pirus, ausgeführt. Es gibt jedoch auch Theorien, die besagen, dass ein korrupter LAPD-Polizist, der mit Death Row verbandelt war, für die Tat verantwortlich gewesen sein könnte. Oberflächlich betrachtet mag es sich um einen Streit zwischen zwei Labels gehandelt haben, oder, wie die Medien es hochstilisierten, “Ostküste gegen Westküste”, doch insgeheim waren im Hintergrund andere Kräfte am Werk: die rücksichtslose Dynamik der Gangs, mit denen beide Labels eng verbunden waren und die ihre ganz eigene Amplitude hatte (die Bloods, die Death Row repräsentierten, und die Crips, die Puffy Daddy als Bodyguards für Touren an der Westküste anheuerte). Biggies Schicksal war es, Teil von Bad Boy Records zu sein. Das ist höchstwahrscheinlich die triste, ernüchternde Wahrheit. Es ist dennoch eine sehr verschachtelte Geschichte, die, wie erwähnt, umso labyrinthischer erscheint, je mehr man sich mit ihr beschäftigt. Die Themen, über die beide Künstler in ihren Texten rappten, schienen jedenfalls noch vehementer auf sie zurückzustrahlen.