Am Abend des 9. Novembers 1989 versammeln sich Zehntausende an der innerdeutschen Grenze, um die DDR Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Sie verlangen Durchlass, der ihnen kurz zuvor auf einer Pressekonferenz irrtümlich versprochen wurde. Nach anfänglichem Zögern geben die verunsicherten Grenzsoldaten dem Druck nach. Als die Abgeordneten im Bonner Bundestag von der Grenzöffnung erfahren, stimmen sie spontan die westdeutsche Nationalhymne an. Hüben wie drüben, so scheint es, sind alle bester Laune. Elf Monate später ist der ostdeutsche Sozialismus passé.
Der Schriftsteller Ronald M. Schernikau kann dem allgemeinen Freudentaumel nichts abgewinnen. Den Fall der Berliner Mauer, die er einmal als das »schönste Bauwerk Europas« bezeichnet hat, erklärt er auf dem letzten DDR-Schriftstellerkongress im März 1990 zum Sieg der Konterrevolution. Während Menschen bei dem Versuch, illegal in den Westen rüberzumachen nicht selten von Grenztruppen erschossen wurden, ist Schernikau freiwillig vom Kapitalismus in den Sozialismus übergesiedelt. Am 1. September 1989 wurde er der wohl allerletzte Bürger der DDR; über 20 Jahre, nachdem er und seine Mutter sein Geburtsland, eben jene DDR, in einem Kofferraum versteckt, Richtung Westen verlassen hatten. Trotzdem — oder gerade deswegen? — wurde Schernikau in der Bundesrepublik zum überzeugten Kommunisten. Der Kommunismus, schreibt er an einer Stelle, »liegt so auf der hand! aber vielleicht haben die anderen keine hand?« Die DDR war zwar auch für Schernikau beileibe nicht der Kommunismus, verkörperte aber immerhin dessen Möglichkeit. Weil er den ostdeutschen Realsozialismus zeit seines Lebens für reformierbar hielt, wollte Schernikau in der DDR »mittun«. Umso schmerzhafter war dann der Zusammenbruch dessen, was er als »das bessere Land« bezeichnete.
Mit 16 Jahren tritt Schernikau in die westdeutsche DKP ein, zu deren Parteiräson die unverbrüchliche Treue zur DDR gehört. So konsequent sind nicht alle, die in ihrer Jugend mit dem Kommunismus flirten. Wer sich im Nachkriegsdeutschland als links bezeichnet, tut das nicht selten zwecks Abgrenzung von und Rebellion gegen das mehr oder weniger (meist weniger) entnazifizierte Elternhaus. Die Ernsthaftigkeit des jungen Ronalds legen nur wenige an den Tag, vielleicht, weil dessen politische Überzeugung kein provokanter radical chic als Antwort auf den im Westen herrschenden Antikommunismus oder jugendlicher Akt des Aufbegehrens ist. Dass Schernikau die DDR richtig und die BRD falsch findet, ist laut eigener Aussage ein »biografischer zufall.« Die Mutter, die er schätzt, ist selbst Kommunistin, der Vater ist zwar je nach Überlieferung Antikommunist bis Nazi, spielt aber keine Rolle in Ronalds Leben und Erziehung. So hat Schernikau schon als Kind gelernt, dass der Sozialismus, selbst in seiner höchst unbefriedigenden Ausführung, dem Kapitalismus überlegen ist. Als Erwachsener hat er diese These, nach eigener Überprüfung, für richtig befunden. Den Dogmatismusvorwurf, dem er sich in politischen Diskussionen gelegentlich ausgesetzt sieht, kontert Schernikau mit der rhetorischen Frage, ob die Tatsache, dass jede Klugheit zu einer Dummheit werden könne, ein Argument gegen die Klugheit sei. Schernikau war sicher klüger als die allermeisten, aber in dieser Gewissheit hat er gelegentlich die Realität übersehen.
Gerade für einen Autor mag so ein Bekenntnis zur DDR erstaunen, fielen Kunst und Kultur im Osten doch zuverlässig der Zensur zum Opfer. Die Partei hatte keine Hemmungen Bilder abzuhängen, Theaterstücke zu verbieten und Bücher einzustampfen. Die Zumutungen der rigorosen SED-Kulturpolitik waren für viele ostdeutsche Schriftsteller:innen Grund genug in den Westen zu fliehen, dessen Liberalismus sich ja immerhin auch dadurch auszeichnet, dass man weitgehend ungestraft Gift und Galle gegen ihn speien darf (was Schernikau leidenschaftlich gern getan hat).
Darüber, dass Literatur, die veröffentlicht werden will, die Erwartungen der Kulturbeauftragten und die ästhetischen Vorgaben des sozialistischen Realismus zu erfüllen hat, macht Schernikau sich zu keinem Zeitpunkt Illusionen. »Subjektivistische« Lyrik und Prosa sind hier nicht gern gesehen und als dienende Kunst hat die Literatur im Osten unmittelbar erzieherisch zu wirken, eine pädagogische Funktion, die nicht gerade Schernikaus Kunst- und Literaturverständnis entspricht. Die pure Abbildung der Welt, um zu enthüllen, aufzuklären und zu empören, wird seinen Ansprüchen nicht gerecht. Bezeichnenderweise ist Journalismus, den er gelegentlich betreibt, für Schernikau nur interessant, wenn er literarische Gestaltung erlaubt, schön sein kann. Schernikau will die Welt zeigen, wie sie sein könnte. Lediglich als jemand wahrgenommen zu werden, der die Welt darstellt, erklärt er einmal in einem Gespräch mit Erika Runge, ist ihm zu wenig. Schernikau bestand immer auf dem Kunstcharakter seiner Schreibarbeit und war dennoch der Meinung, in der DDR der bessere Schriftsteller sein zu können. Seinen literarischen Vorbildern Irmtraud Morgner, deren Heiterkeit ihn fasziniert, und dem unverbesserlichen Marxisten Peter Hacks, der bereits Mitte der fünfziger Jahre nach Ostberlin übersiedelt und Schernikau zum Literaturstudium in Leipzig ermutigt, sei das schließlich auch gelungen.
Schernikaus schriftstellerisches Talent hat sich früh abgezeichnet. Mit acht Jahren liest der junge Ronald die Shakespeare-Märchen aus dem Kinderbuchverlag und fängt an, eigene Geschichten zu verfassen, die dann geistreiche Titel tragen wie: ›Romeo, meine Brüste jucken‹. Er soll sich von seiner Mutter sogar eine Brille gewünscht haben, um wie ein Schriftsteller auszusehen. Mit gerade einmal 19 Jahren feiert Schernikau dann seinen ersten kommerziellen Erfolg mit der Coming-out-Geschichte Kleinstadtnovelle. Die Erzählung begleitet einen schwulen Schüler an einem westdeutschen Kleinstadtgymnasium, und dieser Schüler ist unverkennbar Ronald Schernikau. Autoren-Ich und Ich-Erzähler sind zwar nicht identisch, aber die autobiographischen Züge der Kleinstadtnovelle unverkennbar. Jugendliches Selbstbewusstsein, nicht-heteronormative Männlichkeit und ein großes Unbehagen mit der sich liberal gerierenden Hochleistungspädagogik sind nur ein paar der Eigenschaften, die b., der Protagonist der Kleinstadtnovelle, und Schernikau gemein haben. Der Versuch, den Autor vom Werk zu trennen, ist selten so aussichtslos wie im Falle Schernikaus.
Die Erstauflage der Kleinstadtnovelle ist schon nach wenigen Tagen vergriffen und der Autor wird im bundesdeutschen Feuilleton (auch im Spiegel, was ihn besonders freut) für seine präzisen Beobachtungen und literarisch ambitionierte Sprache gelobt. Eine Passage über den Lateinlehrer von b. illustriert Schernikaus beeindruckende Beobachtungsgabe: »wer eine laufbahn lang tendenziöse berichte über fußtruppen, lager und angriffe übersetzt, dessen weltbild ist durchsetzt mit wahren werten: da gibt es tüchtige und faule, feiglinge und staatsmänner, redner und volk. reaktionär und progressiv ist mann nur in dieser verkleidung.« Unserem Protagonisten ist das höchst suspekt, aber »niemand um b. herum scheint die grausamkeit der latschen beispielsätze für irgendwelche grammatischen regeln zu bemerken«. Überhaupt hat b. ein schwieriges Verhältnis zu den bigotten Lehrkräften und heult, wenn sein Erdkundelehrer brüllt, der Sozialismus sei »der größte beschiss der menschheit!«
Schernikaus Debüt wird vor allem dafür gelobt, dass hier ein 19-jähriger seine klugen Gedanken auf einem schriftstellerischen Niveau zu Papier bringt, das seinen Altersgenossen gemeinhin nicht zugetraut wird. Die großartigste Entdeckung bei der Lektüre der Kleinstadtnovelle war für mich aber Schernikaus Sinn für Humor. Dort, wo gar kein Humor herrscht, habe ich einmal gelernt, sollte man vorsichtig sein. Und wenn wer unironisch Lenin am Revers trägt und die Berliner Mauer als Bollwerk des Sozialismus feiert, unterstelle ich vorschnell die Abwesenheit von Humor — eine red flag, wenn man so will. Schernikaus Antworten auf den berühmten Fragebogen von Marcel Proust verraten, dass er »die sozialdemokraten« mehr verachtet als alle anderen historischen Akteure und »die sicherung der grenze der ddr am 13. August 1961« für die bewundernswerteste militärische Leistung der Geschichte hält (eine zugegebenermaßen befremdliche Aufforderung von Proust, militärische Leistungen zu lobpreisen). Das klingt nach proletarischer Strenge und Kaderdisziplin. In der Kleinstadtnovelle gibt es aber eine Szene, die mich beim lesen laut hat auflachen lassen (es sollte nicht die letzte gewesen sein). b. ist auf der Suche nach einer neuen Hose. Beim Betreten eines Bekleidungsgeschäfts verkündet er: »ich möchte ne Jeans, die gut sitzt und vor allem billig ist. die verkäuferin sagt: das wollen alle. nafein, freut sich b., bei dieser nachfrage muß das angebot ja überwältigend sein! die verkäuferin sieht ihn mitleidig an.« Das mit dem Marktgleichgewicht will im Westen wie im Osten nicht so recht klappen, und bei Schernikau kann man darüber lachen. Komisch sind in erster Linie die absurden gesellschaftlichen Verhältnisse, die Schernikau hier persifliert. Alle wollen dasselbe, das nicht mal schwer zu machen ist, und das Angebot ist trotzdem mau. »lachen können, wo es nichts zu lachen gibt, befreit b.«, und selbiges dürfte für den Autor Schernikau gelten. Mit der Politik und dem Kommunismus, die aus seinem Werk nicht wegzudenken sind, war es Schernikau immer ernst — aber eben nicht so bierernst, dass nicht auch Komik und Wortwitz, der gelegentlich die Grenze zum Kalauer überschreitet, ihren Platz bei ihm hätten. Er fordert Selbstironie, Spaß und Albernheit. »wenn ich nicht albern wäre«, schreibt er einmal, »wäre ich längst tot.« Die starke Sympathie, die ich für Schernikau empfinde, und die Bereitschaft, mich auf seine häufig nicht gerade leicht verdaulichen Texte mitsamt ihrer unkonventionellen Erzähllogik und gewöhnungsbedürftigen Schernikauschen Kleinschreibung einzulassen, hätte ich ohne ein geteiltes Faible für Albernheiten wohl kaum aufbringen können.

Leider sieht es nach dem frühen Erfolg mit seinem Erstling lange so aus, als würde Schernikau ein literarisches One-Hit-Wonder bleiben. Seine Schriftstellerkarriere stagniert, er findet keinen Verlag für den Nachfolger und krebst am Rande des Existenzminimums in Kreuzberg herum (scheinbar ein Fall von life imitating art: so wie b. am Ende der Kleinstadtnovelleist auch Schernikau nach Westberlin gezogen). Die Ablehnungen seiner Manuskripte, meint er, seien politisch motiviert. Neben den spärlichen Tantiemen für die Kleinstadtnovelle muss der Autor sich mit Babysitten und Unterhaltszahlungen von seiner Mutter Ellen über Wasser halten.
Mit Ellen hat sich Ronald dann auch im Jahr der Veröffentlichung seines Debuts drei Tage Zeit zusammengesetzt, um über Ellens Leben zu sprechen. Über Politik, den Osten und den Westen, über Liebe und Sexualität und die Verflechtung von Politischem und Persönlichem. Dabei herausgekommen sind eine Tonbandabschrift von 660 Seiten und intime Einblicke in das Leben der eigenen Mutter, wie sie nur den wenigsten Kindern vergönnt sein dürften. Ronald hat aus dem Interview einen Monolog geformt und das Gesprochene in Blankverse gegossen. Ellens Lebensbericht ist so eindrucksvoll, dass es neben der dramaturgischen und metrischen Bearbeitung des Gesprächsprotokolls keinerlei weiterer Kommentare oder Reflexionen seitens Ronalds bedarf, um aus der Erzählung eine Art Entwicklungsroman zu machen.
Eine frühe Version des Textes erscheint posthum als Irene Binz: Befragung, eine überarbeitete Version in Schernikaus Großwerk legende. Die titelgebende Irene Binz, das ist kein Geheimnis, heißt eigentlich Ellen Schernikau. 1966, als Ronald sechs Jahre alt ist, verlassen Mutter und Sohn illegal die DDR. Ellen ist, wie sie selbst sagt, aus Liebe weggegangen. Ronalds Vater ist schon lange rüber in den Westen, aber dass er dort eine neue Familie gegründet und keine Absicht hat, diese zu verlassen, verschweigt er Ellen bis zu ihrer Ankunft in der Bundesrepublik. Es dauert dementsprechend nicht lange, bis Ellen die Flucht bereut und beginnt, sich Vorwürfe dafür zu machen, ihren Sohn in den kapitalistischen Westen geschmuggelt zu haben. Der Vater kann indessen wenig anfangen mit seinem Sohn, er wendet sich von dem jungen Ronald ab und wird später behaupten, dieser sei ein »kommunistischer Schmierfink« (dies, betont Ellen in einem Interview, habe sie schriftlich).
Nachdem es mit der erhofften Familienzusammenführung nicht geklappt hat, könnten Mutter und Sohn ja eigentlich zurück in die DDR. Aber Republikflüchtlinge, das leuchtet Ellen ein, sind ›Verräter der Arbeiterklasse‹ und werden dementsprechend bestraft. Das hätte für die Mutter das Gefängnis und für den Sohn das Heim bedeutet, also müssen sie fürs erste mit der BRD vorlieb nehmen. Erst 1972 wird Ellen offiziell ausgebürgert und kann wieder in die DDR reisen, die sie schmerzlich vermisst hat. Sie kann sich eben nur da zuhause fühlen, »wo der Sozialismus ist.«
Dass ein überzeugtes SED-Mitglied rübergemacht hat, sorgt im Westen für reichlich Verwirrung. Die Entscheidung, in die Bundesrepublik überzusiedeln, müsse doch naturgemäß eine politische sein (auch wenn es de facto für viele Menschen eine persönliche oder berufliche war). Wer entsprechend auf die Zone schimpft, darf sich Hoffnung auf einen Flüchtlingsausweis machen, der so manche Privilegien wie Steuervorteile oder Unterstützung bei der Wohnungssuche mit sich bringt. Aber Ellen will nicht schimpfen. So sehr man ihr auch zuredet, pragmatisch zu sein: Sie ist eben kein politischer Flüchtling, sondern »privat hier«.
Auch ansonsten bleibt Ellen sich und dem Sozialismus treu. Sie singt noch im Westen FDJ-Lieder, liest zum ersten Mal die Bild-Zeitung und denkt sich: »Ein Glück, daß es sowas bei uns nicht gibt.« Den vermeintlichen Vorzügen der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft kann Ellen wenig abgewinnen und Yoga heißt für sie weiterhin Gymnastik, ohne den spiritualistischen Schnickschnack.
Dank DDR-Medien kommt auch der junge Ronald im niedersächsischen Lehrte bei Hannover in den zweifelhaften Genuss einer Ostsozialisation. Jeden Sonntagmorgen um 9 Uhr läuft im Hause Schernikau Helga Hahnemanns Schlagersendung im DDR-Rundfunk. Besonders Nina Hagen hat es Ronald angetan — ausgerechnet die spirituelle Hagen, die später nach der Ausbürgerung ihres Stiefvaters Wolf Biermann in den Westen flüchten wird. Weil Schernikau als Erwachsener das »abhärten« trainieren will, hängt er über seinen Schreibtisch zwei Bilder: Eines vom Geliebten seines Partners, das tut natürlich weh, und eines von Nina Hagen. Auch dieses Bild schmerzt ihn sehr. Seine DDR war eine mit Nina. Schernikaus Faible für Schlagermusik hat dieser Verlust immerhin keinen Abbruch getan, für Marianne Rosenberg hat er mit ›Amerika‹ sogar einen Schlagertext gegen Reagan geschrieben.
1986 schließen die DDR und die BRD ein Kulturabkommen ab, in dem sie eine weitreichende Zusammenarbeit »im Rahmen ihrer Möglichkeiten« vereinbaren. Schernikau ist der einzige Westdeutsche, der infolge dieses Abkommens ein Studium am Leipziger Johannes R. Becher-Institut für Literatur, einem Ausbildungszentrum für sozialistische Schriftsteller:innen, aufnimmt. Er selbst ist zwar nicht der Meinung, dieses Studium nötig zu haben oder dabei besonders viel lernen zu können, aber immerhin ist es ein Anlass, in den Osten umzusiedeln. Er bekommt eine nette Wohnung zugeteilt und ein für DDR-Verhältnisse sehr üppiges Studienstipendium von 600 Mark. Materiell geht es Schernikau damit besser als im Westen.
Die Abschlussarbeit seines Studiums, den autobiographischen Roman tage in l., will Schernikau als Liebeserklärung an die DDR verstanden wissen. Heute gelesen, verleitet der Text in weiten Teilen nicht gerade dazu, der DDR nachzutrauern. Lediglich ein Praktikumsbericht über Schernikaus Zeit im Braunkohle-Tagebau erweckt den Eindruck von einem praktisch-solidarischen Alltag, wie es ihn im Westen wohl kaum gegeben haben dürfte. Ansonsten hat der Autor sich seine typischen Provokationen und Albernheiten erlaubt. Er spricht strukturelle Missstände an, beschreibt den Eigensinn des häufig dysfunktionalen DDR-Alltags und wie sich die hierarchische Struktur des Realsozialismus unter anderem im autoritären Habitus von Türstehern und Kinokartenabreißerinnen niederschlägt. »polemik mit dem feind«, meint er, gäbe es nicht, demnach sei seine Kritik ja gut gemeint und konstruktiv, nur konnte man in der DDR damit bekanntlich nicht viel anfangen. Spätestens ein so kecker Satz wie »also ich gebe zu, die ddr nervt« führt dann dazu, dass tage in l. im Osten nicht veröffentlicht werden darf. Neben dem Inhalt des Textes wird ihm auch die zerfasernde, aphoristische Form seiner Beobachtungen zum Vorwurf gemacht. Der flanierende Stil seiner Collage sei keine Kunst, kein Ganzes, mehr Journalismus als Literatur und überhaupt zu essayistisch und fragmentarisch. Publiziert wird das Buch dann nur in der Bundesrepublik.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von tage in l. hat Schernikau bereits jahrelang an seinem Lebenswerk gearbeitet. Es ist das eine, alles umfassende Buch; eine gigantische Montage, in der neben der Haupthandlung Schernikaus bislang unveröffentlichte Einzelwerke, unter ihnen Irene Binz, als Einlagen enthalten sind, was dem ohnehin kaum vorhandenen Erzählfluss nicht gerade zuträglich ist. Die Melange unterschiedlichster literarischer Darstellungsformen verweigert sich jeglicher Gattungsbestimmung, ist Tagebuch, Essay, Gedicht, Epos und zweispaltig gesetzt wie die Bibel. 1990, noch während der Arbeit an legende, erfährt Schernikau, dass er HIV-positiv ist. Weil er Mitleid hasst wie die Pest, hält er die Diagnose lange geheim. Auch sich selbst bemitleiden kann er nicht, stattdessen schreibt er gegen seinen sich ankündigenden Tod an. Im Herbst 1991 beendet Schernikau sein Magnum Opus, vier Wochen, bevor er im Alter von nur 31 Jahren an den Folgen seiner Aids-Erkrankung stirbt. Erstmals gedruckt wird die legende erst acht Jahre später, nachdem seine Mutter Ellen und sein Lebenspartner Thomas Keck diverse Verlage abgeklappert haben. Verlagsablehnungen hat Schernikau im Westen wie im Osten erfahren müssen, im Leben und danach. Dass sein Satz »der kommunismus wird siegen werden« sich bewahrheitet, hat er nicht mehr erlebt. Schon ihm zuliebe wäre das doch sehr zu wünschen.
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Literatur:
Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (2002: Konkret Literatur Verlag, Hamburg).
Ronald M. Schernikau: die tage in l. darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur (2009: Konkret Literatur Verlag, Hamburg).
Ronald M. Schernikau: legende (2019: Verbrecher Verlag, Berlin).
Ronald M. Schernikau: Irene Binz. Befragung (2010: Rotbuch Verlag, Berlin).
Matthias Frings: Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau (2009: Aufbau Verlag, Berlin).
Helen Thein & Helmut Peitsch (Hg.): Lieben, was es nicht gibt. Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau (2017: Verbrecher Verlag, Berlin).
Schernikau.net: http://www.schernikau.net/